Egon Bahr ist tot. Die SPD trauert. Nicht nur weil Egon ein fabelhafter Mensch war, wie gerade wir in Schleswig-Holstein erleben durften. Er war von 1976 bis 1990 Bundestagsabgeordneter im Wahlkreis Flensburg-Schleswig. Nicht nur weil, die historische Zusammenarbeit von Willy Brandt und Egon Bahr in den düsteren Jahren des Kalten Krieges einen visionären Neubeginn verhieß: „Wandel durch Annäherung“, „Mehr Demokratie wagen“, „Wir wollen ein Volk der guten Nachbarn sein, im Innern und nach Außen“, „Frieden ist nicht alles, aber ohne Frieden ist alles Nichts“.
Hundert Tausende neuer Mitglieder sind deshalb in den 1970er Jahren in die SPD geströmt. Wir trauern nicht nur, weil er ein brillanter Denker, Unterhändler und weitsichtiger Architekt sozialdemokratischer Außen- und Sicherheitspolitik Politik war. Nein, die Trauer ist deshalb so groß, weil sein Tod eine große Lücke reißt. Denn bis in die letzten Tage seines Lebens blieb er mittendrin. Als ein wichtiger Rat- und Impulsgeber für uns alle, die wir in der SPD Verantwortung tragen. Auch wir in Schleswig-Holstein haben immer wieder seinen Rat gesucht, zuletzt auf unserer großen Veranstaltung „Friedenspolitik heute“ im Juni 2014. Egon Bahr war sozusagen die direkte Verbindung zu Willy Brandt. Die erfolgreiche Entspannungs- und Friedenspolitik von Brandt und Bahr am Beginn der 1970er Jahre, die 1989 mit der deutschen Einheit an ihr Ziel gelangt ist, hat viele Millionen Wählerinnen und Wähler mobilisiert. Denn diese Politik musste gegen erbitterte Widerstände und heftigste Anfeindungen gegen die CDU/CSU, die Vertriebenenverbände und den Springer-Verlag durchgesetzt werden. Es wäre falsch, diese Zeit, diese Politik und ihre damaligen Akteure zu verklären. Was bleibt ist aber, dass diese Friedenspolitik seitdem neben dem Grundwert der sozialen Gerechtigkeit zu dem Epizentrum sozialdemokratischen Denkens gehört. Frieden und Gerechtigkeit sind heute die grundlegenden historischen Leitideen der Sozialdemokratie. Darüber ist nach dem Tod von Egon Bahr viel geschrieben worden. Die Trauer in der SPD ist deshalb so groß, weil niemand weiß, wie die Lücke, die Egon Bahr hinterlässt, geschlossen werden könnte. Egon Bahr war ja bis zuletzt mit seinen Analysen und Denkanstößen mehr als nur ein Ratgeber für seine SPD, er war für viele ein Stabilitätsanker der SPD in der Weltkrise.
Denn wenn wir uns in der Welt von heute umsehen, spüren wir, dass sich Grundlegendes gefährlich zum Schlechteren entwickelt: Mit den Entwicklungen in der Ukraine hat eine neue Phase der Konfrontation zwischen Ost und West begonnen. In Ostasien kann man nichts Gutes erwarten, wenn dort viele alte Konflikte wiederaufleben und von allen Seiten hochgerüstet wird wie nie. Weite Teile des Nahen und Mittleren Ostens stehen in Flammen und sind weitgehend zerstört. Millionen Menschen sind weltweit auf der Flucht – vor ruchlosen Diktaturen, vor Folter, vor allem vor Kriegen, von denen kaum noch einer durchschaut, wer da eigentlich gegen wen und für was kämpft. Die Menschen sind auf der Flucht vor der durch Ausbeutung und Korruption zerstörten Wirtschaft und Umwelt ihrer Heimatländer. Viele suchen bei uns Schutz und für ihr Leben vielleicht sogar bessere Perspektiven für ihre Familie und ihre Kinder – so wie es Willy Brandt und ungezählte Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten in der Nazi-Zeit und nach dem Kriege in Schweden, Norwegen, England oder in den USA taten. Und was die EU selbst angeht: Haben wir uns in der EU getäuscht, was das soziale Europa angeht? Die brutale neoliberale Ausrichtung der Wirtschaftspolitik – wie zuletzt am Beispiel Griechenland vorgeführt – zerstört auf Dauer den sozialen und politischen Zusammenhalt, die Demokratien und die Solidarität auf unserem Kontinent. Mitten in Europa blüht ein erschreckender Rechtspopulismus und es werden wieder Stacheldrahtzäune errichtet. In Deutschland brennen wieder die Flüchtlingsunterkünfte.
Die SPD hat in ihrer Geschichte bewiesen, dass sie immer wieder zu historischen Initiativen fähig war und die Kraft hatte, sie auch durchzusetzen: den Sozialstaat, den Rechtsstaat, die Demokratie und eben die Brandt-Bahr’sche Friedenspolitik. Und Sozialdemokratie hat vielfach unter Beweis gestellt, dass sie mächtige Gegner und rüde Propaganda nicht fürchtete. Auch heute kann man Zweifel haben, ob eine humane offensive Flüchtlingspolitik, ob eine Politik des Interessenausgleichs mit Russland, weil dies ist die Grundbedingung für Frieden in Europa ist, oder eine Verweigerung von Waffenlieferungen in Kriegs- und Krisengebiete in zurzeit Deutschland Mehrheitsfähigkeit ist. Jedenfalls polarisieren diese Themen die Menschen in unserem Land. Egon Bahr hat in seinem Buch „Deutsche Interessen“ (1998) schon auf der ersten Seite kurz und bündig festgestellt: „Wenn wir 1969 den Umfragezahlen gefolgt wären, hätte es diese Ost- und Entspannungspolitik nicht gegeben.“
In der Tat: Die wichtigsten Meilensteine sozialdemokratischer Politik mussten erkämpft werden, wir mussten sie in der Bevölkerung mehrheitsfähig machen, wir mussten gegen mächtige Widerstände durchsetzen. Das werden wir auch künftig weiter tun müssen, wenn sozialdemokratische Politik die unzureichende Wirklichkeit verändern will, wenn wir neue, bessere Realitäten schaffen wollen. Und zwar egal ob wir regieren oder in der Opposition sind. Denn „Nichts kommt von selbst“ (Willy Brandt). Egon Bahr hat uns auch beigebracht, dass man mit denen reden und Frieden schließen muss, die gerade nicht alle eigenen Werte und Überzeugungen teilen. Das wäre heute eine wichtige Lehre, wenn man in die Ukraine, nach Nahost oder in andere Krisenregionen der Welt schaut.
Der Zeit-Journalist Gunter Hofmann schreibt in seinem Nachruf auf Egon Bahr: „Wer daran glaubt, dass Worte, intelligente Argumente, Analysen, vor allem aber Visionen Kern der Politik sind und Verhältnisse verändern, für den zählt Egon Bahr schon seit Langem zu den wenigen, auf deren Schultern die Republik steht. Pathetisch gesagt: Auf den Schultern von Riesen“. Die Lücke, die der Riese Egon Bahr hinterlässt, ist nur schwer zu füllen. Aber wir alle in der SPD können vieles lernen von ihm und weiter führen, was er vorgedacht und vorgemacht hat.