Die SPD hat – zu Unrecht oder nicht – in den letzten Jahren zunehmend und bei vielen Wahlen sichtbar das Vertrauen der „kleinen Leute“ verloren. Die SPD ist vor allem in der Wahrnehmung von Menschen mit niedrigen Bildungsabschlüssen und entsprechenden Einkommen nicht mehr „ihr Anwalt“. Geschuldet ist diese Wirkung der SPD auf ihre unverzichtbare und einst Mehrheiten bildende Stammklientel verschiedenen Umständen, keineswegs „nur“ der Agenda-Politik.
Das hat z.B. auch etwas mit der Akademisierung der Partei in den 70ern zu tun, die das Denken in der Partei und die soziale Wahrnehmung verändert hat. Mit der parallel eingesetzten Auflösung der Bindungen sozialdemokratischer Milieus und mit der gesunkenen personalen Kompetenz der Partei in sozial- und gesundheitspolitischen Fragen hat unser Problem auch zu tun. Attraktive geschweige denn inhaltlich populär unterlegte Antworten aus dem Munde politischer Leitfiguren sind in der gesamten Sozialpolitik eher rar – auch bei der Konkurrenz. Unsere sozialpolitische Kompetenz als Kernmarke (noch mehr die gesundheitspolitische) muss auf Bundes- und Landesebene daher regelrecht neu aufgebaut werden.
Die uns großteils nach neoliberalen Argumentationsmustern und mittels systematisch veröffentlichter „Meinung“ aufgezwungene meist defensiv geführte Diskussion um die Zukunftsfestigkeit unserer Sozialsysteme hat beim Thema Rente zu Entscheidungen geführt, die „rein rechnerisch“ vielleicht sogar berechtigt waren und sind: der demografische Wandel ist schließlich nicht wegzudiskutieren, ebenso wenig die Verdoppelung der Rentenbezugszeit seit 1960 und das gesunkene Renteneintrittsalter. Eine andere Frage ist, ob wir damit nicht dennoch Entscheidungen getroffen haben, die auf das System bezogen vielleicht „richtig“ waren, aber gegen einen elementaren Grundsatz verstoßen haben: Politik muss Verstand und Herzen bedienen. Auch demografischer Wandel verbietet z.B. auskömmliche Renten nicht, wenn deren Finanzierung aus einer funktionierenden Wirtschaft und mittels gerechter Vertei- lungspolitik gesichert werden kann. Zu diesem Ziel besteht weiterhin keine ernstzunehmende politische Alternative.
So klug und fortschrittlich es war, die Alterssicherung zu für viele Menschen akzeptablen Bedingungen um eine dritte Säule zu ergänzen (Riester-Rente), die eine Aussicht auf Lebensstandardsicherung im Alter zumindest erhöht hat: es kann bei den eingangs genannten „Kleinen Leuten“ nur Empörung auslösen, wenn ihnen unter den realen Lebens- und Arbeitsbedingungen unterm Strich ein durchweg als ungerecht empfundenes Rentensenkungsprogramm zugemutet wird, verbunden mit der Botschaft „Rente gibt’s erst mit 67“.
Die mit dem Modell geregelte drastische Rentenabsenkung vor dem 67. Lebensjahr haben die „Kleinen Leute“ sofort verstanden. Sie macht ihnen zu Recht Angst. Sie ist für Geringverdiener unterm Strich der sichere Weg in die Altersarmut, denn „fürs Riestern“ fehlt gerade denen das Geld. Und den Weg in die vorzeitige Rente wegen Berufs- und Erwerbsunfähigkeit haben wir auch noch zum Teil „wasserdicht“ verbaut – in einer Zeit, in der neue v. a. psychisch wirkende gesundheitliche Belastungen und ein rasanter Wandel sowie die immer forderndere Arbeitswelt eher „Gegenteiliges“ nötig gemacht hätten.
Im „Beiprogramm“ haben wir auch noch Umstände zugelassen, die unter dem Stichwort „Flexibilisierung der Beschäftigung“ u.a. auch noch prekäre Einkommen vorzeichnen. Das alles erfassen auch „Kleine Leute“ sehr wohl, auch ohne VWL-Studium. Die Diskussion um den Mindestlohn ist hier ein Thema, mit dem wir zurzeit wieder Boden gut machen. Auch die beschlossenen Veränderungen bei der Arbeitsmarktpolitik und bei Leih- und Zeitarbeit waren ein wichtiger Schritt dahin, Vertrauen für die SPD zurückzugewinnen. Gut so.
Für das Thema Rente (und für das Thema Gesundheitsversorgung auch) fehlen uns noch vergleichbar einfach zu kommunizierende Antworten. Die Bürgerversicherung ist zwar ein brauchbarer „Kampfbegriff“, löst aber weder in der Pflege noch in der Gesundheitsversorgung automatisch schon den tatsächlichen oder empfundenen, erst recht nicht den absehbar drohenden Mangel an Ressourcen auf. Der Begriff „Erwerbstätigenversicherung“ ist schon kommunikativ spröde…
Für die Rückgewinnung von verspieltem Vertrauen, namentlich für die SPD, bedarf es auf dem Feld der Sozialpolitik jedenfalls größter Anstrengungen und kluger Botschaften, die zum einen im System umgesetzt funktionieren müssen. Zum anderen müssen sie inhaltlich von den „Kleinen Leuten“ verstanden werden – und zwar „auf den ersten Blick in die Bild-Zeitung“. Ausdifferenzierte Semantik ist dafür in der jetzigen Situation der SPD politisch ungeeignet. Parteitage dürfen – ebenso wie die Redaktionen für Wahlprogramme – nicht zu Fachkonferenzen im Sozialversicherungsrecht werden. Welche Liebeserklärung folgt schon einem 10-Seiten-Konzept? Eine Liebeserklärung folgt den Rosen! Fachlich solide und seriös muss alles sein, was wir tun, aber es gilt auch: Klare Botschaften sind gefragt, die verstanden und als gut und gerecht für alle empfunden werden. Bürgerversicherung und „Volksrente“, – „alle müssen da einzahlen“ – das ist so eine Botschaft, gerade in der Finanzkrise:
Sozialversicherung als Solidarsystem und damit zugleich als Gegenmodell gegen in der Krise abschmierende Kapitallösungen. Dadurch, dass dann auch die Besserverdienenden wie Ärzte, Anwälte, Steuerberater, Architekten, Politiker pp. in eine solidarische Versicherung einzahlen, wird die Stoßrichtung der Reform auch nicht nur wieder auf die Klientel der SPD gelenkt und von dieser nicht als erneute gezielte Bedrohung empfunden.
Die Botschaft muss sein: Rente mit 67 war so ein Fehler. Es ist keinesfalls unklug, Fehler einzugestehen. Schon das ist eine Botschaft, die geeignet ist, bei vielen Menschen das Vertrauen in die SPD wieder herzustellen. Im Kleingedruckten kann man die Ursachen für den Fehler begründen, die ja auch keineswegs nur „unrühmlich“ waren. Und auf das Eingeständnis „Fehler“ muss eine überzeugende Botschaft folgen, die nicht unter dem Generalverdacht steht, dass wieder nur „eine neue Reform-Sau durchs Dorf getrieben wird“. Zumal jede „Reform“ in der erlebten Tradition der Agenda-Politik schon begrifflich mit Einsparungen und Kürzungen assoziiert wird. Den Begriff „Reform“ deuten viele Menschen als Bedrohung. Die „Rentengarantie“, die die Rentnerinnen und Rentner selbst bezahlen, war übrigens kein Fehler. Heißt die Botschaft also „Rente wie früher“? Das wäre auch problematisch, weil wenig glaubwürdig: Zum einen, weil die Bürger natürlich wissen, dass wir ein Demografie-Problem haben und genug junge Beitragszahler da sein müssen, die schließlich auch noch für andere gesellschaftliche Notwendigkeiten (Bildung, Gesundheit, Pflege…) und die eigene Rente (vor)sorgen sollen. Überhaupt hat jede Generation da einen altersspezifischen Gerechtigkeitsanspruch, den es zu bedienen gilt, ohne die Generationen zu spalten. Das bedeutet, dass die Rentner von morgen heute schon für sich was tun – in den Augen der Rentner von übermorgen vor allem muss das so rüberkommen, denn auch das Vertrauen der Jungen braucht die SPD mehr denn je…
Allen, die sich bemühen, am Thema Rente mit 67 für uns Terrain (zurück?) zu gewinnen, sei geraten, nach weiteren Mechanismen zu suchen, die das Modell des längeren Arbeitens – auch gemessen an der harten Realität der Baustelle, des Call-Centers oder der Pflegestation – mit gesundheits- , sozial- und beschäftigungs-politisch überzeugenden Instrumenten tatsächlich zu ermöglichen. Diesen Ansatz kann man nicht aufgeben, auch weil er mit „Qualität der Arbeit“, mit „guter“ Arbeit, verknüpft ist. Das für sich genommen ist eine sehr schwierige Aufgabe, weil es dazu eben auch die Gestaltung und – wichtiger – die Wirksamkeit schwer beeinflussbarer weicher Faktoren in der Arbeitswelt braucht. Und das Engagement in den Unternehmen für z.B. gesundheitsförderliche Arbeitsbedingungen kann schwerlich verordnet werden, insbesondere nicht in den kleinen Betrieben. Vieles ist schon angelegt: betriebliche Gesundheitsförderung, Eingliederungsmanagement. Aber das reicht natürlich quantitativ nicht und ist zudem schwer plakativ zu vermitteln und noch schwerer „zu rechnen“.
Also: wir müssen noch eine plakative und verständliche Formel finden, die Vertrauen, Zustimmung und das Gefühl von mehr Gerechtigkeit in Sachen Arbeit und Rente bei
„Kleinen Leuten “ auslöst. Manches fachliche Detail wird dann im zweiten Schritt auch noch dazu kommen müssen (dafür haben wir auch Zeit). Insgesamt darf unser Rentenkonzept aber nicht nur Kompetenz ausstrahlen, sondern muss das Herz erreichen und das Vertrauen der „Kleinen Leute“ zurückgewinnen. Dafür ist auch zwingend, dass diese neuen Botschaften einig, überzeugend und glaubwürdig durch integer wirkende Personen vertreten werden – auf Bundes- wie auf Landesebene. Darum geht es jetzt primär bei unserer Rentendiskussion. Um die „Kleinen Leute“ und ihr Vertrauen in die SPD.
Die einfachste und für nicht wenig Menschen attraktive Formel heißt “Weg mit der Rente mit 67“ – propagiert von Sozialverbänden und Gewerkschaften. Das ist eine Option, jedenfalls eine, die verstanden wird. Auch wenn das nicht unsere Lösung ist: An der Einfachheit dieser Botschaft muss sich alles andere messen lassen. Eine Botschaft „die Rente mit 67 kommt später“ ist nicht Fisch und nicht Fleisch. Wir können nicht so tun, als ob! Und das gilt schon für den kommenden Bundesparteitag. Wer Solidarität nicht (auch) abschaffen will, muss einen neuen plakativen Rentenbegriff erfinden, der (ohne Rentner zu diskriminieren) einen weichen, flexiblen (Voll- oder Teil-) Ausstieg aus dem Arbeitsleben ermöglicht – und zwar ohne massive Rentensenkungen, wenn für die Berentung Gründe bestehen. Eine solche Rente muss denjenigen ab 60 offen stehen, die ihre letzte Tätigkeit (nicht den Beruf…) aus gesundheitlichen Gründen aufgeben müssen. Den berühmten Dachdecker von Kurt Beck können wir nicht mit 61 noch für 6 Jahre zum Kaufmann für Baustoffe „umpolen“. 15 % Rentenkürzung sind aber auch keine überzeugende Antwort – nicht für Dachdecker und auch nicht für eine Buchhändlerin, die nicht mehr acht und mehr Stunden am Stück stehen kann. Ein zweiter Schritt ist es, eine Finanzierung einer solchen – nennen wir sie – „Flex-Rente vor 67“ zu konzipieren.
Ein Ansatz könnte eine vorübergehende Absenkung der gesetzlichen Altersrente sein, die weiter erst mit 67 „voll“ gezahlt wird. Ich könnte mir zur Finanzierung des so
entstehenden individuellen Rentendeltas bis 67 vorstellen, dass es Branchen be- zogenen Versorgungskassen obliegt, dafür Ausgleiche zu zahlen. Eine solche Kasse könnten die Gewerkschaften gemeinsam mit den Arbeitgebern verwalten. Die Kosten werden je nach Frühverrentungsrisiko nach den in den Branchen üblichen Arbeitsbedingungen allein von den Arbeitgebern getragen, der Aufwand kann aber auch paritätisch aufgebracht oder Teil der Tarifverhandlungen werden oder durch Umlage der Betriebe finanziert – nach Größe oder Ertragskraft differenziert. In der Baubranche gibt es ähnliches. Diese Branchenkassen könnten aber auch in Form eines Sondervermögens als Teil der Deutschen Rentenversicherung organisiert werden.
Die DRV wiederum erhielte auf diese Weise auch noch einen ohnehin überfälligen Schub für einen neuen Rehabilitations- und Präventionsauftrag. Sie hätte zur Stabilisierung der Beschäftigungsfähigkeit mehr Gesundheit in den Betrieben und eine enge Verknüpfung mit der Rehabilitation zu organisieren – dringend nötig auch schon heute, denn für die medizinisch anspruchsvolle und teure Rehabilitation von Menschen über 55 stellt sich die Sinn- und die Effizienzfrage des Grundsatzes „Reha vor Rente“ völlig neu.
Für „rentennahe“ Arbeitslose könnte ein mit Dauer der Arbeitslosigkeit ansteigender Beitrag der Bundesagentur für Arbeit zur Finanzierung solcher Branchenkassen dafür
sorgen, die Motivation der BA zur Vermittlung Älterer zu steigern (um dann Beitragskosten zu sparen). Motivation ist überhaupt ein wichtiger Schlüssel für längere Erwerbstätigkeit: wer über den regulären Verrentungszeitraum erwerbstätig bleibt (und weiter Beiträge zahlt), sollte dafür eine überproportional steigende Rente bekommen.
Wie auch immer: am Ende des Ganzen muss bei den sog. „kleinen Leuten“ die Überzeugung stehen, dass es sich gelohnt hat, für die dann ausgezahlte Rente „40 Jahre lang eingezahlt“ zu haben. Das kann und muss man auch flankieren, indem schon das System motiviert, länger zu arbeiten. Warum folgen wir nicht dem finnischen Beispiel, das gerade für jenseits der Altersgrenze zurückgelegte Erwerbszeiten höhere Rentenanwartschaften gewährt? Schließlich wird länger eingezahlt, und die Bezugszeit wird verkürzt – was beides das System stützt. Außerdem macht diese Option deutlich, dass längeres Arbeiten „erwünscht“ ist und bedient zugleich das Gerechtigkeitsgefühl.
Wer Rentengerechtigkeit vermitteln will, muss die schlichte Formel „Rente mit 67“ als Fehler benennen, soweit die entsprechenden Voraussetzungen für Ältere auf dem
Arbeitsmarkt fehlen und die, die einfach nicht mehr können, herbe Verluste erleiden. Wir sollten hier als SPD nicht aus parteitaktischen Gründen oder Vergangenheits-
bewältigung kneifen. Die Rente mit 67 einfach auf 65 zurückzudrehen, wäre in den Augen vieler Menschen, für die wir Politik machen wollen, richtig und gerecht. Wenn wir das nicht wollen, müssen wir ein solides und gerechtes Konzept vorlegen, das auch so verstanden wird. Es geht jetzt nicht um die eine magische Zahl des formellen Renteneintrittsalters, sondern darum, dass mehr Menschen tatsächlich unter vernünftigen qualitativen und fiskalischen Bedingungen auch länger arbeiten können und wollen. Um Taktik geht es jetzt gar nicht.
Der „Kompromiss“ in der innerparteilichen Debatte heißt: Wir beseitigen die Wirkung eines Fehlers. Wir schaffen Gerechtigkeit – als ganze solidarische SPD.